Das Osterwunder
Der Volksmund sagt: Die Ostersonne steigt
Nicht so wie sonst - als Wunder sei zu sehn,
Dass sie sich dreimal tief zur Erde neigt,
Nur müsse man auf hohem Berge stehn,
Noch schläft das Dorf - im Kiese knirscht mein Schritt,
Das Strässlein windet sich dem Bach entlang,
Die erste Amsel ruft ihr leises: "Witt",
Begleitend meinen dämmerfrühen Gang.
Die Nebelfrau zeiht durch den dunklen Grund
Ihr weisses Kleid und flichts um Busch und Strauch,
Gleich einem Wölklein fliegt vor meinem Mund
Des raschen Atems Hast in flüchtgem Hauch.
Schon rötet sich der Himmel gegen Ost;
Er schimmert golden durch den schwarzen Tann,
Vom Grase streift des Fusses Tritt den Frost,
Noch windet sich der Weg den Berg hinan.
Der Nebelfrau Gewand verhüllt das Tal,
Dumpf hallt der Tritt auf blankem Urgestein,
Goldroter Lichterstreif, noch eng und schmal,
Und immer heller werden Streif und Schein;
Schon glitzerts hier und dort und überall,
Buntfarben blühen leuchtgewaltig auf
in Tönen, die das Auge nie geschaut,
Erreichen Dörfer und des Baches Lauf
Von hellgewordnem Himmel überblaut.
Wie soll des Menschen Auge satt sich sehn? -
Und plötzlich steht der Sonne goldnes Rund
Unendlich leuchtend, ganz und gross und schön,
Hoch über Wipfelrand und dunklem Grund.
Das Osterwunder? Ob es wohl geschah,
Indes ich ganz in durstgem Schaun versank
Der Herrlichkeiten aller, fern und nah?
Ein Menschlein, vor der Schöpfung Überschwang!